Mit Urteil 9C_690/2022 vom 17. Juli 2024 hat sich das Bundesgericht in Fünferbesetzung zur Bindungswirkung der von der ESTV jährlich publizierten Safe-Harbour-Zinssätze geäussert. Nach Auffassung des höchsten Gerichts sind die Steuerbehörden nicht an die publizierten Zinssätze gebunden, wenn zwischen verbundenen Unternehmen Zinssätze vereinbart werden, die unter oder über den publizierten Mindest- oder Höchstzinssätzen liegen. In diesem Fall – so das Bundesgericht – sind die Steuerbehörden vielmehr gehalten, den konkreten marktüblichen Zinssatz zu ermitteln.
Die beschwerdeführende Gesellschaft (A. AG), eine Tochter einer spezialgesetzlichen Aktiengesellschaft (B. AG), ist aufgrund von Betriebstätten im Kanton Zürich beschränkt steuerpflichtig.[1] Im Jahr 2013 schloss die A. AG mit ihrer Mutter einen Rahmenkreditvertrag mit einer Kreditlimite von maximal CHF 1 Mrd. ab. Gestützt auf diesen Vertag vereinbarten die beiden Gesellschaften ein Darlehen mit fester Laufzeit (61 Monate) über CHF 500 Mio., welches mit 2.5% p.a. zu verzinsen war. In der Differenz zwischen der Kreditlimite und dem festen Darlehen wurde ein Kontokorrent mit einem Zinssatz von 3% p.a. vereinbart.
Das Kantonale Steueramt des Kantons Zürich («KStA ZH») vertrat die Meinung, dass die vereinbarten Zinssätze dem Drittvergleich nicht standhielten, da bei der Festlegung der strittigen Zinssätze insbesondere die bestehende Staatsgarantie der Muttergesellschaft nicht berücksichtigt worden sei. In der Folge machte das KStA ZH für die betroffenen Steuerperioden 2014 und 2015 geldwerte Leistungen geltend, wobei es den seiner Ansicht nach marktüblichen Zinssatz zunächst nach pflichtgemässem Ermessen ermittelte und auf 1 % p.a. festlegte. Die dagegen erhobene Einsprache hiess das Steueramt teilweise gut und setzte den angemessenen Zinssatz neu auf 1,08% fest. Diesen Zinssatz ermittelte die Veranlagungsbehörde aus dem durchschnittlichen Zinssatz für die Refinanzierung der B. AG mit Anleihensobligationen von 0.83% und addierte eine Marge von 0.25%. Dieser Ansatz wurde vom Steuerrekursgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 10. März 2021 bestätigt.
Die gegen das Urteil des Steuerrekursgerichts erhobene Beschwerde wurde vom Verwaltungsgericht des Kanton Zürich teilweise gutgeheissen und zur Neuberechnung und zum Neuentscheid im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. Das Verwaltungsgericht hielt im Wesentlichen fest, dass die von der ESTV jährlich publizierten Zinssätze auch zu beachten seien, wenn die Steuerpflichtige von diesen abweicht, und dass diese den Bandbreitenrand der drittvergleichskonformen Verzinsung definierten. Eine Korrektur einer nicht marktüblichen Verzinsung sei mithin nur auf die Höhe der jeweiligen Mindest- bzw. Höchstzinssätze möglich. Hiergegen führte das KStA ZH vor Bundesgericht Beschwerde, welches die Position des Verwaltungsgerichts verwarf und die Auffassung des Steueramtes im Ergebnis schützte.
In materieller Hinsicht setzte sich das Bundesgericht zunächst kurz mit dem Einwand des KStA ZH auseinander, die von der ESTV publizierten Zinsrundschreiben seien für die Staats- und Gemeindesteuern nicht anwendbar und nur für die direkte Bundessteuer und die Verrechnungssteuer verbindlich. Diesbezüglich erinnerte das höchste Gericht daran, dass es sich beim Gewinnsteuerrecht um eine harmonisierte Materie handle, weshalb die Zinssätze der ESTV auch für die Staats- und Gemeindesteuern anwendbar seien.[2]
In Bezug auf den Charakter der ESTV-Zinsrundschreiben betreffend die zulässigen Zinssätze führte das Bundesgericht zunächst aus, dass diese der Vereinfachung bei der Anwendung des Prinzips der Marktüblichkeit dienen würden. Die Vereinfachung liege darin, dass die publizierten Zinssätze als «safe harbour rules» die Annahme begründen, es läge keine geldwerte Leistung vor, wenn sich die steuerpflichtige Person an die Regeln hält.[3] Umgekehrt bzw. wenn die steuerpflichtige Person von den publizierten Zinsätzen abweiche, gelte hingegen die widerlegbare Vermutung einer geldwerten Leistung. Diesfalls obliege es der Steuerpflichtigen, nachzuweisen, dass die Zinszahlungen dem Drittvergleich standhalten. Gleichzeitig hielt das Bundesgericht fest, von den Zinsrundschreiben der ESTV sei nur abzuweichen, dann die anwendbaren Gesetzesbestimmungen nicht überzeugend konkretisieren würden.[4]
Mit Blick auf den zu beurteilenden Sachverhalt führte das Bundesgericht aus, die Bindungswirkungen der Zinsrundschreiben bestehe nur solange, als sich die steuerpflichtige Person selbst an die darin definierten Zinssätze halten würde. Weiche diese davon ab, «[sei] kein Grund ersichtlich, weshalb die Steuerbehörde weiterhin daran gebunden sein soll und nicht ihrerseits den Nachweis einer Drittvergleichskonformität erbringen […] [dürfe]».[5] In diesen Fällen lägen alsdann auch weder eine Verletzung des Vertrauensschutzes noch des Gleichbehandlungsgebots vor, zumal die steuerpflichtige Person selbst von den ESTV-Zinssätzen abgewichen sei. Mit dem Abweichen der genannten Zinssätze würde schliesslich auch der Zweck der «safe harbour rules», d.h. die administrative Vereinfachung, vereitelt, da die Steuerbehörden in diesen Fällen zu überprüfen habe, ob der geltend gemachte Zinssatz marktkonform ist.[6] Vor diesem Hintergrund erkannte das Bundesgericht keine Rechtsverletzung indem das KStA ZH vorliegend den ihres Erachtens marktüblichen Zinssatz – in Abweichung der ESTV-Zinssätze – ermittelt hat.
In Bezug auf die Ermittlung des marktüblichen Zinssatzes durch das KStA ZH stellte das Bundesgericht fest, dass sich das Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich nicht mit der Frag der Zulässigkeit der Berücksichtigung einer Marge von 0.25% gestützt auf die Zinsrundschreiben der ESTV nicht befasst habe. Diesbezüglich hat das Bundesgericht die Sache an die Vorinstanz zur erneuten Beurteilung zurückgewiesen.
Das dargestellte Urteil des Bundesgerichts wirft sowohl aufgrund des Begründungsansatzes und der möglichen Konsequenzen für die Praxis verschiedene Fragen auf, auf die im Folgenden einzugehen ist.
Was die verneinte Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes betrifft, ist dem Bundesgericht soweit zuzustimmen, wenn gewährleistet ist, dass die Steuerbehörden in allen Fällen, in welchen eine steuerpflichtige Person von den ESTV-Zinssätzen abweicht, konsequent und lückenlos den ihrerseits als marktüblich geltenden Zinssatz ermittelt. Mit anderen Worten sollte eine einzelfallweise Berufung durch die Steuerbehörden auf die ESTV-Zinssätze ausgeschlossen bleiben, da dies andernfalls zu einer Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen führen würde, die von den ESTV-Zinssätzen abweichen. So verstösse die einzelfallbezogene Geltendmachung der effektiv höheren Verwaltungskosten durch die Steuerbehörden bei der Bemessung des Beteiligungsabzugs – soweit dies überhaupt vom Gesetzgeber gewollt ist[7] – gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.[8]
Nicht – wenn überhaupt – vollends zu überzeugen vermag alsdann die Argumentation des Bundesgerichts, wonach der Zweck der Zinsrundschreiben in der administrativen Vereinfachung nicht mehr erreicht werden könne, wenn die steuerpflichtige Person von den zulässigen Höchstzinsen abweiche. Nach der nun ergangenen Rechtsprechung des Bundesgericht können sich die Steuerbehörden (unter Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes) nicht mehr auf die Prüfung der zum Nachweis der Drittvergleichskonformität vorgelegten Verrechnungspreisstudien beschränken, sondern müssen nun ihrerseits – sofern sie der Ansicht sind, dass der Nachweis nicht gelungen ist – den effektiv marktüblichen Zinssatz bestimmen. Zwar bringt der (versuchte) Nachweis der drittvergleichskonformen Verzinsung durch die Steuerpflichtigen entsprechenden Aufwand bei der Steuerbehörde mit sich. Dies an sich verhindert den Zweck der administrativen Vereinfachung aber nur teilweise. Vollständig vereitelt wird dieser Zweck erst durch die vom KStA ZH vertretene und vom Bundesgericht geschützte Position, es sei Aufgabe der Steuerbehörde, den konkret anzuwendenden Zinssatz (und nicht bloss einen Zinsrahmen) festzulegen. Ginge es effektiv (bloss) um die administrative Vereinfachung, ist kein Grund ersichtlich, weshalb bei nicht gelungenem Nachweis der at arm’s length Verzinsung (zur Vereinfachung) nicht auf die ESTV-Zinssätze abzustellen ist. Stattdessen müssen die Steuerbehörden nach der nun geltenden Rechtsprechung den tatsächlich drittvergleichskonformen Zinssatz ermitteln.
Was die Anforderungen an den von den Steuerbehörden zu erbringenden Nachweis des ihres Erachtens marktüblichen Zinssatzes betrifft, scheint es nahezuliegen, auf dieselben Anforderungen an den Nachweis des Drittvergleichs bzw. die Verrechnungspreisstudie abzustellen, wie sie von der ESTV für die Steuerpflichtigen definiert worden sind. Mithin müsste die vorzulegende Verrechnungspreisstudie folgende Elemente umfassen, wobei für die ersten beiden Punkte die Mitwirkungspflicht des betroffenen Steuerpflichtigen herangezogen werden kann[9]:
Hinsichtlich der anwendbaren Verrechnungspreismethoden gilt bei Zinsen die Preisvergleichsmethode (Comparable Uncontrolled Price Method, CUP-Methode) als die primär anzuwendende Verrechnungspreismethode. Daneben ist in der schweizerischen Praxis auch die Geldbeschaffungskostenmethode (Cost of Funds Method) anerkannt, an der sich das KStA ZH offensichtlich orientiert hat. Bei diesem Ansatz wird der Zinssatz auf Basis der Kosten für die Beschaffung der finanziellen Mittel durch den Kreditgeber zuzüglich einer Risikoprämie sowie einer Gewinnmarge ermittelt. Bei der Margenbestimmung ist eine Einzelfallbeurteilung unter Berücksichtigung des Kreditratings des Kreditnehmers erforderlich. Vor diesem Hintergrund ist der Rückweisungsentscheid des Bundesgerichts in Bezug auf die vom KStA ZH angewendete Zinsmarge von 0.25%, welche sich wiederum auf das Zinsrundschreiben der ESTV abstützt, im Lichte der übrigen Erwägungen nur konsequent.
Schliesslich wirft auch die bundesgerichtliche Feststellung Fragen auf, wonach es Aufgabe der Steuerbehörde sei, einen konkret anzuwendenden Zinssatz und nicht (bloss) einen Zinsrahmen festzulegen habe. Diese Aussage kann mit der state of the art Verrechnungspreismethodik nicht in Übereinstimmung gebracht werden. Das Bundesgericht verkennt, dass für die marktübliche Verzinsung grundsätzlich nur eine Bandbreite ermittelt werden kann bzw. dass es wenig wahrscheinlich ist, dass es nur einen Marktzins für eine bestimmte Transaktion gibt.[10] Dabei gilt der Grundsatz, dass eine Korrektur der effektiv vereinbarten Konditionen zwischen verbundenen Unternehmen nur auf den oberen oder unteren Rand der Bandbreite zulässig ist. Dieser Grundsatz wird nun vom Bundesgericht – zumindest in Bezug auf Zinsen – unnötig in Frage gestellt. Ebenfalls in Frage gestellt wird, inwiefern die von der ESTV publizierten Zinssätze dem Drittvergleich entsprechen, wenn diese in bestimmten Fällen nicht als Grundlage zur Festsetzung geldwerter Leistungen herangezogen werden können sollen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich gewisse Steuerverwaltungen auf den Standpunkt stellen, die Bandbreite der marktkonformer Zinssätze sei relativ eng, womit ein Abweichen von den ESTV-Zinssätzen von mehr als 25% per se nicht drittvergleichskonform und das Erbringen des Gegenbeweises durch die Steuerpflichtige (faktisch) ausgeschlossen sei.[11] Diese Position kann bei konsequenter Berücksichtigung der nun ergangenen bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht mehr aufrecht erhalten werden.
Mit Blick auf den konkret zu beurteilenden Sachverhalt kann festgehalten werden, dass das Abweichen durch das KStA ZH von den ESTV-Zinssätzen durchaus als einzelfall- und sachgerecht betrachtet werden kann. Die vom Bundesgericht gewählte Begründung zur Rechtfertigung des Abweichens von den ESTV Zinssätzen vermag aber nicht zu überzeugen und führt zu unnötigen Unsicherheiten. Es wäre sachgerechter gewesen, die Spezialität des Einzelfalls herauszustreichen und damit eine sachverhaltsbezogene Begründungslinie zu fahren. Diesbezüglich hätte das Bundesgericht auf den Grundsatz abstellen können, dass von den Zinsrundschreiben der ESTV (nur) abgewichen werden kann, wenn sie die anwendbaren Gesetzesbestimmungen nicht überzeugend konkretisieren, was vorliegend durchaus hätte argumentiert werden können.
Wünschenswert wäre nun, wenn die ESTV das nun vorliegende Urteil des Bundesgerichts als Impuls zur Ausdifferenzierung ihres Zinsrundschreibens verstehen und namentlich den Anwendungsbereich der «safe harbour-rules» genauer abstecken würde.[12] Damit würde die Rechtssicherheit der Steuerpflichtigen erhöht und es könnte der zu erwartende Mehraufwand für die Steuerbehörden abgefedert werden. In diesem Zusammenhang ist nämlich zu beachten, dass das Kreditrating des Darlehensnehmers und die konkrete Ausgestaltung der Finanzierung für die einzelfallbezogene Ermittlung eines drittvergleichskonformen Zinssatzes von erheblicher Bedeutung sind. So ist z.B. zu beurteilen, welchen Einfluss Sicherheiten, Laufzeit und Rückzahlungsprivilegien (oder das Fehlen von solchen) haben und ob bzw. wie ein impliziter Konzernrückhalt oder ein Konzernrating zu berücksichtigen sind bzw.
Da ein Abweichen von den Zinsrundschreiben der ESTV schon immer zu einer faktischen Nachweispflicht der Drittvergleichskonformität der verwendeten Zinssätze geführt hat, ist – auch im Lichte dieses Entscheids – Unternehmensgruppen weiterhin zu empfehlen, eine entsprechende Verrechnungspreisanalyse und -dokumentation zu erstellen.
Zürich, 23. August 2024
[1] Vgl. zur detaillierteren Sachverhaltsbeschreiben das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich SB.2021.00056 vom 25. Mai 2022.
[2] Urteil BGer 9C_690/2022 vom 17. Juli 2024, E. 6.1.
[3] Urteil BGer 9C_690/2022 vom 17. Juli 2024, E. 4.1.
[4] Urteil BGer 9C_690/2022 vom 17. Juli 2024, E. 4.2.
[5] Urteil BGer 9C_690/2022 vom 17. Juli 2024, E. 6.2.
[6] Urteil BGer 9C_690/2022 vom 17. Juli 2024, E. 6.2 in fine.
[7] Vgl. Attenhofer, in: Klöti-Weber/Schudel/Schwarb, Kommentar zum Aargauer Steuergesetz, 5. Aufl., Bern 2023, Rz. 35 zu § 27b; Vitali, ibid., Rz. 86 zu § 76.
[8] Vgl. Greter, Der Beteiligungsabzug im harmonisierten Gewinnsteuerrecht, Diss., Zürich 2000, S. 142.
[9] Vgl. https://www.estv.admin.ch/estv/de/home/internationales-steuerrecht/verrechnungspreise.html, Frage 23.
[10] Vgl. https://www.estv.admin.ch/estv/de/home/internationales-steuerrecht/verrechnungspreise.html, Frage 32.
[11] Vgl. Harbeke/Hug/Scherrer, Verrechnungspreisrecht der Schweiz, Grundlagen und Praxis, Zürich, 2022, Rz. 1188.
[12] Vgl. hierzu auch die Kritik an den ESTV-Zinsrundschreiben bei Harbeke/Hug/Scherrer, a.a.O., Rz. 1226.
Die Welt des E-Commerce hat in den letzten Jahren eine beispiellose Expansion erlebt, wobei digitale Plattformen und Online-Handel den globalen Markt revolutioniert haben. Mit diesem Wachstum sind jedoch auch komplexe Herausforderungen verbunden, insbesondere im Hinblick auf die Mehrwertsteuer (MWST) und deren Anwendung auf grenzüberschreitende Transaktionen. Die dynamische Natur des E-Commerce, kombiniert mit internationalen Geschäftspraktiken, hat zu einer komplexen rechtlichen Landschaft geführt, die Teilnehmer am e-Commerce vor neue Herausforderungen stellt. Der nachstehende Artikel befasst sich in erster mit den mehrwertsteuerlichen Themen im b2c Handel (also beim Verkauf an «Konsumenten», im Gegensatz zu Unternehmungen). Dabei handelt es sich um einen groben ersten Überblick. Die entsprechenden Regelungen sind komplex und sollten daher auf Basis des konkreten Geschäftsmodells im Einzelfall geprüft werden.
Keine Schwellenwerte für Drittländer!
Wer im EU Raum b2b Lieferungen (und bestimmte Dienstleistungen) erbringt, ohne über einen festen Geschäftssitz in der EU zu verfügen, wird gegebenenfalls unmittelbar (also ab dem ersten Euro Um-satz) steuerpflichtig. Sonderregelungen für Kleinunternehmer gelten meist nur für Unternehmen mit Sitz in einem EU-Mitgliedsstaat.
MWST in 27 Mitgliedstaaten abrechnen: der One Stop Shop
Bei b2c-Lieferungen in verschiedene Mitgliedstaaten (sog. Fernverkäufe oder «distance sales») ab einem EU-Warenlager (verzollte Ware) gilt zunächst der MWST-Satz des Staates, in dem sich das Warenlager befindet.
Übersteigt der Umsatz aus solchen Fernverkäufen EU-weit EUR 10’000 pro Jahr, gilt der MWST-Satz des Landes, in dem der Kunde ansässig ist. Bis vor kurzem mussten sich e-Commerce Händler unter Umständen in allen Mitgliedstaaten separat mehrwertsteuerlich registrieren, um ihren Melde- und Abrechnungspflichten nachzukommen. Seit 2021 ist es ihnen möglich, ihre Melde- und Abrechnungspflichten über eine zentrale Registrierung zu erledigen, den sog. One Stop Shop („OSS“)
Beispiel: wie oben, allerdings erzielt der Händler inzwischen einen Umsatz von EUR 17’000 p.a., wovon EUR 6’000 auf Österreich und EUR 5’000 auf die Niederlande entfallen.
Ware aus dem Drittland in die EU liefern: der Import One Stop Shop
Wie Fernverkäufe innerhalb der EU unterliegen auch Fernverkäufe aus einem Drittland der Mehrwertsteuer zu dem MWST-Satz, der in dem Land des Kunden anwendbar ist. Bis zu einem Warenwert von EUR 150 haben Händler die Möglichkeit, die entsprechenden Fernverkäufe über den sogenannten Import One Stop Shop (IOSS) abzuwickeln.
Wird auf die Anwendung des IOSS verzichtet, kann ein Sonderregelung zur Anwendung kommen, wonach die Einfuhrsteuer durch den Spediteur direkt beim jeweiligen Kunden kassiert wird. Regelmässig stellen Spediteure ihre Verzollungs-Leistungen den Kunden zusätzlich in Rechnung – so dass dieses Vorgehen aus Kundensicht teuer und wenig transparent scheint.
Schliesslich besteht die Möglichkeit, dass der Fernverkäufer sich in den jeweiligen Mitgliedsstaaten seiner Kunden registriert und seine Lieferungen selbst gegenüber den nationalen Steuerbehörden abrechnet.
Alternativ hat der Händler die Möglichkeit, die «Sonderregelungen bei der Einfuhr von Sendungen mit einem Sachwert von höchstens 150 Euro» (so die Bezeichnung im entsprechenden § 21a des deutschen Umsatzsteuergesetzes) anzuwenden. In diesem Fall vereinnahmt der Spediteur die Steuer (und allfällige Bearbeitungszuschläge) direkt beim Kunden.
Drittens besteht noch die Möglichkeit für den Schweizer Händler, sich in Österreich, Deutschland und den Niederlanden mehrwertsteuerlich zu registrieren und die MWST lokal abzurechnen
Plattformbesteuerung
Sonderregelungen gelten in der EU seit einigen Jahren für Fernverkäufe, die über sog. „elektronische Schnittstellen“ angebahnt oder abgewickelt werden, sofern die Ware innerhalb der EU versendet wird und der Verkäufer selbst Drittländer ist. Als elektronische Schnittstelle gelten etwa ein elektronischer Marktplatz oder eine elektronische Plattform, die es Käufer und Verkäufer ermöglicht, in Kontakt zu treten, woraus eine Lieferung von Gegenständen an diesen Leistungsempfänger resultiert (beispielsweise Amazon Marketplace, ebay oder Alibaba).
In Fällen, in denen eine elektronische Schnittstelle in diesem Sinne in die Lieferkette einbezogen wird, kommt es zu einer sog. „Lieferkettenfiktion“: Während tatsächlich lediglich ein einziges Verkaufsgeschäft vorliegt, werden für umsatzsteuerliche Zwecke zwei Lieferungen fingiert, indem eine (erste) Lieferung von dem Unternehmer an den Betreiber der elektronischen Schnittstelle sowie eine (zweite) Lieferung von dem Betreiber der elektronischen Schnittstelle an den Enderwerber angenommen werden. Die fingierte Lieferung des nicht im Gemeinschaftsgebiet ansässigen Onlinehändlers an den Betreiber der elektronischen Schnittstelle ist von der MWST befreit. Die Lieferung der elektronischen Schnittstelle an den Endkunden folgt den allgemeinen Grundsätzen für Fernverkäufe.
Dropshipping und andere moderne Vertriebskanäle bieten verlockende Möglichkeiten, neue Einkommensquellen zu erschliessen. Dabei ist es unerlässlich, von Beginn an die (mehrwert-) steuerlichen Folgen zu berücksichtigen. Wer wartet, bis sein Geschäft eine kritische Grösse erreicht hat, läuft seinen eigenen Versäumnissen aus der Vergangenheit hinterher. Mit einem klugen Setup lassen sich das Geschäft ohne grössere Risiken skalieren und der administrative Aufwand in vertretbarem Rahmen halten.
Das Bundesgericht hat in einem kürzlich ergangenen Urteil (BGer 9C_154/2023 vom 3. Januar 2024) die Zulässigkeit des Vorsteuerabzugs bei der Bezugsteuer (Mehrwertsteuer auf Dienstleistungsbezüge aus dem Ausland) für Beraterleistungen im Zusammenhang mit der Veräusserung von Beteiligungen behandelt. Demnach ist eine in der Schweiz mehrwertsteuerpflichtige Person nur berechtigt, die deklarierte Bezugsteuer als Vorsteuer geltend zu machen, wenn die entsprechenden Leistungen in einem Zeitraum erbracht wurden, in dem die steuerpflichtige Person bereits mehrwertsteuerpflichtig (registriert) war. Der Nachweis hierfür obliegt der steuerpflichtigen Person.
Die A AG, die sich erst per 1. April 2019 in das MWST-Register als Steuerpflichtige eintragen liess, plante den Verkauf von Anteilen an zwei Gesellschaften. Dazu beauftragte sie zur Vorbereitung, Planung und Durchführung der Veräusserung mehrere ausländische Dienstleister, die je nach Expertise in den Bereichen Investment, Prüfung und Steuern sowie Recht beraten sollten. Die Beratungsverträge zwischen der A AG und den Beratern wurden in den Jahren 2014 bzw. 2018 abgeschlossen, also noch bevor die A AG als mehrwertsteuerpflichtige registriert war. Das Projekt wurde dann im Mai 2019 durch den erfolgreichen Verkauf der Anteile abgeschlossen. Alle Berater fakturierten Ihre Leistungen nach dem 1. April 2019, wobei die nunmehr Steuerpflichtige A AG ordnungsgemäss die Bezugssteuer deklarierte und den daraus resultierenden MWST-Betrag als Vorsteuer wieder geltend machte. Während der Dauer des Projektes von 2014 bis Mai 2019 wurden keine dieser bezogenen Dienstleistungen aktiviert.
Die ESTV verweigerte nach Prüfung den Vorsteuerabzug grösstenteils mit dem Argument, dass die Steuerpflichtige nur diejenigen Vorsteuern zum Abzug bringen könne, welche (unabhängig vom Rechnungsdatum) tatsächlich erst nach deren Eintragung ins MWST-Register am 1. April 2019 (Stichtag) erbracht worden waren. Aufgrund fehlender Detailinformationen dazu, welcher Berater welche Leistungen zu welchem Zeitpunkt genau erbracht hat, ging die ESTV methodisch von einem gleichmässigen, linearen Bezug der Dienstleistungen nach Massgabe der Zeitdauer der Verträge aus (pro rata temporis). Somit sei der Vorsteuerabzug nur insoweit zuzulassen, als nach dieser proportionalen Aufteilung der Honorare die Leistungen nach dem Stichtag erbracht worden sind.
Die Position der ESTV, wonach das Recht auf Vorsteuerabzug nur solche Leistungen umfassen kann, die während bestehender Steuerpflicht bezogen wurden, wurde im Verfahren vor dem Bundesgericht nicht (mehr) bestritten.
Das Gericht fokussierte sich demnach auf die Frage um den Nachweis, wann die Beratungsleistungen effektiv erbracht wurden. Dem Grundsatz folgend, dass abgabebegründende und abgabeerhöhende Tatsachen von der Steuerbehörde, abgabemindernde und abgabeausschliessende Tatsachen von der abgabepflichtigen Person nachzuweisen sind, sah das Gericht die A AG in der Beweispflicht, dass die Leistungen aus den lange vor erfolgter MWST-Registrierung abgeschlossenen Beraterverträgen erst nach Eintragung in das Register der steuerpflichtigen Personen erbracht worden waren. Diesen Nachweis sei die A AG schuldig geblieben. Mangels anderer Anhaltspunkte sei der Ansatz ESTV, die von einer kontinuierlichen Leistungserbringung über den Zeitraum seit Vertragsabschluss ausging und entsprechend die Entgelte «pro-rata-temporis» aufteilte, vorliegend nicht zu beanstanden.
Im Sinne eines Eventualantrages hatte die A AG argumentiert, ihr stünde ein Anspruch auf Einlageentsteuerung zu. Es handelt sich hierbei um die Möglichkeit, den Vorsteuerabzug (anteilig) zu einem späteren Zeitpunkt als dem Leistungsbezug zu korrigieren, wenn die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug nachträglich noch eintreten, Art. 32 MWSTG.
Auf in Gebrauch genommene Gegenstände und Dienstleistungen kann der Vorsteuerabzug korrigiert werden, wenn diese in dem Zeitpunkt, in dem die Voraussetzungen des Vorsteuerabzug neu vorliegen, noch vorhanden sind und einen Zeitwert haben, Art. 72 Abs. 2 Satz 1 MWSTV.
Allerdings gilt bei Dienstleistungen in den Bereichen Beratung, Buchführung Personalbeschaffung, Management und Werbung eine gesetzliche Vermutung, dass sie bereits im Zeitpunkt ihres Bezugs verbraucht und nicht mehr vorhanden sind, Art. 72 Abs. 2 Satz 2 MWSTV. Die Norm kodifiziert nach Auffassung des Gerichts, einzig bezogen auf die mehrwertsteuerliche Behandlung, gewissermassen eine Pflicht zur Sofortabschreibung. Die buchmässige Behandlung (die Art. 70 Abs. 1 Satz 1 MWSTV grundsätzlich vorschreibt) wird durch diese Spezialnorm ausgehebelt.
Die grundsätzlich großzügigen Regelungen zum Vorsteuerabzug in der Schweiz können zuweilen zu einer gewissen Sorglosigkeit im Bereich der Mehrwertsteuer führen. Das Urteil verdeutlicht, dass eine frühzeitige Mehrwertsteuer-Registrierung der beteiligten Parteien im Zusammenhang mit potenziellen Transaktionen stets sorgfältig geprüft werden sollte und meist auch empfehlenswert sein dürfte.
Das Urteil hat nicht nur Relevanz im Kontext von Transaktionen, sondern beispielsweise auch bei Unternehmensgründungen, insbesondere wenn nicht zwangsläufig von einer obligatorischen Steuerpflicht zu Beginn der unternehmerischen Tätigkeit ausgegangen wird.
Zusätzlich zeigt das Urteil, dass besondere Aufmerksamkeit auf die Dokumentation des Zeitpunktes der Leistungserbringung gelegt werden sollte – beispielsweise durch detaillierte Rechnungsstellung oder die Dokumentation bestimmter „Project Milestones“.
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